Gedenkveranstaltung vom 9. November 2019

Wir präsentieren Ihnen unseren Film anlässlich des Gedenktags am 27.01., in dem wir Sie mitnehmen auf eine kleine Tour zu Stätten jüdischen Lebens in der Wetterau:


https://youtu.be/jR18FLQNhnk

Gedenkveranstaltung Jahrestag Reichspogromnacht

9. November 2019, 18:00 Uhr

Gemeindezentrum Wilhelmskirche


Grußwort von Bürgermeister Klaus Kreß


Der 9. November wird gerne als „Schicksalstag“ der Deutschen bezeichnet. Durch mehr als 170 Jahre hindurch fallen auf diesen Tag ganz unterschiedliche, auch ganz unterschiedlich zu gewichtende Wendepunkte unserer Geschichte:


• 1848 markierte die standrechtliche Hinrichtung des republikanischen Parlamentsabgeordneten Robert Blum, Mitglied der Frankfurter Nationalversammlung, den Anfang vom Ende der Deutschen Revolution von 1848/1849. Das erste demokratisch gewählte gesamtdeutsche Parlament scheiterte, die reaktionär-restaurativen Kräfte setzten sich gegen das protestierende Bürgertum durch:


• 1918 verkündete Reichskanzler Max von Baden angesichts der absehbaren Niederlage des Deutschen Reiches eigenmächtig die Abdankung von Kaiser Wilhelm II; der Sozialdemokrat Philipp Scheidemann proklamierte daraufhin von einem Fenster des Reichstagsgebäudes aus die „Deutsche Republik“.


• 1923, am bewusst gewählten fünften Jahrestag der Republik, wurde Adolf Hitler in Folge des zwar binnen weniger Stunden gescheiterten „Hitler-Ludendorff-Putsches“ dennoch als Parteichef der NSDAP erstmals einer breiten Öffentlichkeit bekannt. 


• 1967 protestierten Studenten gegen die Amtseinführung des neuen Rektors der Hamburger Universität mit dem Spruch „Unter den Talaren – Muff von 1000 Jahren“, der zum Symbol der 68er-Bewegung wurde.


• 1969 platzierte die linksradikale (sic!) Organisation Tupamaros West-Berlin eine Bombe im Jüdischen Gemeindehaus in Berlin; glücklicherweise explodierte diese Bombe nicht.


• 1989 fiel die Mauer zwischen Ost- und Westdeutschland; die darauffolgende Wiedervereinigung Deutschlands ebenso wie das Ende des Kalten Krieges bestimmen bis heute die Neuordnung Europas.


Kommen wir zum siebten und letzten Datum, das ich in meiner chronologischen Auflistung ausgespart habe – kommen wir zum 


  • 9. November 1938:

Nach einem Mordanschlag auf einen deutschen Diplomaten in Paris inszenierten die Nationalsozialisten zwischen dem 7. und 13. November das als Ausdruck des „Volkszorns“ gegen Juden deklarierte Pogrom, das in der Nacht vom 9. auf den 10. November in der Reichspogromnacht seinen Höhepunkt erreichte.


Vor allem SA- und SS-Mitglieder in Zivil stürmten in ganz Deutschland und Österreich jüdische Geschäfte, Einrichtungen und Wohnungen, steckten Synagogen in Brand, quälten und verhafteten Tausende von Juden, töteten Hunderte von ihnen.


Der 9. November 1938 ist ein Tag der Schande. 


Er markiert den Übergang von der sozialen Ausgrenzung und Diskriminierung der Juden im nationalsozialistischen Deutschland zur offenen Verfolgung. Nach Beginn des Zweiten Weltkriegs mündete der nationalsozialistische Antisemitismus sehr schnell, zunächst an der Front im Osten, in Polen, in der Ukraine, in Weißrussland, zu systematischen Massenerschießungen jüdischer Männer, Frauen und Kinder, an denen auch die Wehrmacht aktiv beteiligt war. Die Beschlüsse der Wannsee-Konferenz Anfang 1942 leiteten dann über zum industriell betriebenen Völkermord an den Juden Europas, aber auch an weiteren aus rassistischen Motiven ausgegrenzten Bevölkerungsgruppen.


Bis heute symbolisieren die Vernichtungslager des NS-Regimes den Holocaust, dem sechs Millionen Juden zum Opfer fielen.


Und heute? 74 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs sehen wir uns inmitten einer Entwicklung, welche die meisten von uns vermutlich bis vor wenigen Jahren so in Deutschland nicht (nicht mehr!) für möglich gehalten hätten. Ausgrenzung und Fremdenhass sind in unserem Land wieder salonfähig geworden. Diskriminierende Parolen treffen ins Herz unserer bürgerlichen Gesellschaft. Hunderte rechtsextremer Politiker können im Bundestag, in Landtagen, in kommunalen Parlamenten unter dem Schutz der im Grundgesetz garantierten Meinungsfreiheit subtil ihr Gift verspritzen und werden dafür von ihrer Anhängerschaft in den sozialen Medien wortreich bejubelt.


Wie konnte es dazu kommen? Was ist falsch gelaufen in unserer Gesellschaft? Hatten uns nicht die 68er mit ihren zahllosen Demonstrationen, mit spektakulären Aktionen, mit treffend formulierter, ätzender Systemkritik wachgerüttelt? Hatten wir nicht daraufhin langsam und zögerlich, aber letztlich doch auch konsequent die gesellschaftliche Aufarbeitung der Nazizeit begonnen? Hatten nicht zuletzt selbst große Unternehmen, die während des Krieges in die Rüstungsproduktion involviert waren, den Mut aufgebracht, sich öffentlich und selbstkritisch mit diesem dunklen Kapitel auch ihrer Firmengeschichte auseinanderzusetzen? Hatte nicht schließlich auch der Hessische Landtag – um ein parlamentarisches Beispiel zu nennen – eine Untersuchung über die Zahl der ehemaligen NSDAP-Mitglieder in den Hessischen Landtagen seit 1949 vorgelegt? 


Die erschreckenden Wahlergebnisse der rechtspopulistischen, rechtsextremen AfD machen eines deutlich: All diese Bemühungen haben nicht gereicht!


Und rückblickend müssen wir heute zugeben: Wir haben der Anfänge nicht wirksam gewehrt, weil wir diese Anfänge nicht wahrhaben wollten!


Der NSU, der „Nationalsozialistische Untergrund“, hat sich bereits vor 20 Jahren gebildet. Unterstützt von einem Netzwerk aus geschätzt 100 bis 200 Personen ermordeten die drei NSU-Mitglieder innerhalb von acht Jahren aus rassistischen und fremdenfeindlichen Motiven heraus neun Migranten und eine Polizistin, verübten 43 Mordversuche, drei Sprengstoffanschläge und 15 Raubüberfälle zur Finanzierung ihrer Taten. Bis zur Identifizierung der Täter, ihrem spektakulären Selbstmord bzw. ihrer Verhaftung 2011 waren rechtsextreme Hintergründe all dieser Taten weitgehend ausgeschlossen worden.


Die Frage, warum und wie eine solch gravierende Fehleinschätzung geschehen konnte, ist bis heute nicht beantwortet, sie soll auch heute nicht erörtert werden, aber sie muss gestellt sein. Fragen müssen wir uns auch: Hat der jahrelange Prozess uns berührt? Uns Sorgen gemacht? Oder uns am Ende doch eher gelangweilt? Haben uns Berichte über ostdeutsche Kommunalpolitiker entsetzt, die ihr Amt aufgaben, weil ihre Familien bedroht wurden?


Feststellen müssen wir: Aufgerüttelt, wirklich erschüttert hat uns alle erst das erste rechtsradikal motivierte Attentat auf deutschem Boden seit Ende des Krieges. Die kaltblütige Ermordung des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke am 2. Juni 2019 spätabends auf seinem Grundstück in Istha bei Kassel durch einen Neonazi hat uns schockiert. Plötzlich ist diese Bedrohung wieder greifbar für uns: Wer den Mund aufmacht wie Walter Lübcke mit seinem kompromisslosen Eintreten für Flüchtlinge und seinem Widerspruch gegen Pegida-Anhänger 2015, der ist in Gefahr! In Lebensgefahr!


Plötzlich spielt es auch für die breite Öffentlichkeit eine Rolle, dass eine Anwältin von NSU-Opfern seit Jahren massiv bedroht wird. Plötzlich solidarisieren sich Politiker und Parlamente mit Abgeordneten wie Cem Özdemir und Claudia Roth, die Todesdrohungen erhalten haben. 


Plötzlich wird auch wieder öffentlich und wiederholt thematisiert, was im Deutschland von 2019 mit jüdischen Mitbürgern geschieht. Und wir müssen feststellen: 74 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs ist der Hass auf Juden wieder Alltag in Deutschland. Statistiken zeigen: Die Zahl der Angriffe und Vorfälle mit antisemitischem Hintergrund ist stark gestiegen – sie ist erschreckend hoch! Allein für den Zeitraum zwischen 1. Januar und 30. Juni 2019 verzeichnet die Statistik des Bundeskriminalamtes 442 solcher Straftaten, hochgerechnet bedeutet das fast 1000 Vorfälle in diesem Jahr. Eine Auswahl (aus einer Übersicht der Zeitung „Die Welt“):


1. Januar, München: Ein Zettel mit rassistisch-antisemitischem Inhalt wird an die Tür eines israelischen Restaurants geklebt

8. Januar, Berlin: Ein Mann greift in einem Bus eine hebräisch sprechende Frau an

9. Februar, Frankfurt: Ein Mann beleidigt eine Gruppe von Schülern antisemitisch; sein Versuch, einem der Schüler ins Gesicht zu treten, scheitert 

13. Februar, Dresden: Nach einer antisemitischen Entgleisung gegen den Publizisten Henryk M. Broder muss ein FDP-Lokalpolitiker als Kreisvorstand zurücktreten

10. März, Nürnberg: Ein Fußballfan grölt antisemitische Parolen und zeigt den Hitlergruß

8. April, Dortmund: Der Fahrer eines Reisebusses schikaniert israelische Kinder und Jugendliche

2. Mai, Bremen: Ein Aktivist der israelfeindlichen BDS-Bewegung verbreitet Verschwörungstheorien über Juden

6. Mai, Hamm: Die nordrhein-westfälische Linksjugend fordert auf Facebook die vollständige Vernichtung des Staates Israel

18. Mai, Hemmingen: Auf das Haus eines jüdischen Ehepaars in dem niedersächsischen Ort wird ein Brandanschlag verübt

16. Juni, Düsseldorf: Ein Rabbiner wird auf offener Straße von einem Unbekannten antisemitisch beleidigt und verfolgt

20. Juni, Hamburg: Ein Mann bedroht und bespuckt zwei Vertreter der jüdischen Gemeinde vor dem Rathaus

13. Juli, Freiburg: Ein Mann bedrängt und bedroht die Gemeindevorsitzende mit Sprüchen wie: „Mich wundert nicht, dass Hitler euch vergast hat, euch Idioten!“ Und „Ab mit euch! Sonst schlag ich dich tot, du Hure!“

27. Juli, Potsdam: Ein junger Mann bespuckt und beleidigt einen Kippaträger am Hauptbahnhof 

10. August, Offenbach: Judenhasser schmieren einen Davidstern mit dem Wort Friedhof an die Wand eines Zeitschriftenladens

7. September, Weimar: In der KZ-Gedenkstätte Buchenwald beschmieren Unbekannte drei Gedenksteine mit Hakenkreuzen

7. September, Mühlheim: Polizeianwärter sollen in einer WhatsApp-Gruppe antisemitische und rassistische Bilder geteilt haben; die Untersuchung läuft 

2. Oktober, Massing: Ein Mann wirft in dem niederbayrischen Ort mit einem Stein nach einer Jüdin und verletzt sie am Kopf


Bespucken, beleidigen, Bedrohung durch Feuertod und Steinigung… 


In meiner Auswahl habe ich allseits bekannte Ereignisse wie den Anschlag auf die Synagoge in Halle am 9. Oktober bewusst ausgelassen. Die Auswahl listet Vorfälle auf quer durch die Republik, quer durch die Gesellschaft, von Nord nach Süd, von Ost nach West, von der Großstadt in die Provinz, von Fußballplatz bis Polizeirevier und selbst in die Politik. Die meisten der von mir ausgewählten Vorfälle haben es in die überregionale Berichterstattung nicht geschafft. Nicht einmal für sich genommen sind sie jedoch banal. Und in der Zusammenfassung offenbaren sie ein höchst erschreckendes Bild (und es sind nur 17 Vorfälle von annähernd 1000 in diesem Jahr). 


In früheren Jahren habe ich an dieser Stelle gesagt: So etwas wie nach 1933 darf in Deutschland nie wieder passieren. In diesem Jahr kann ich das nicht. Nie wieder? 


Mit Erschrecken stellen wir fest: Es ist längst wieder soweit!


Umso mehr gilt: Erwachen wir endlich aus unserer „Wohlstand-in-Frieden-Lethargie“! Machen wir uns bewusst, dass Werte wie Meinungsfreiheit und Demokratie nicht gottgegeben sind, sondern jeden Tag, jede Stunde gepflegt, vielleicht sogar neu erkämpft werden müssen! Machen wir uns bewusst, dass Politik nichts Abstraktes ist, sondern die Summe unserer Entscheidungen – und zwar aller unserer Entscheidungen, und vor allem der Entscheidungen aller von uns! Haben wir den Mut, Stellung zu beziehen! Zeigen wir Solidarität mit denen, die erneut ausgrenzt werden sollen (und zwar von Linksradikalen ebenso wie von Rechtsradikalen)! Engagieren wir uns! Überwinden wir unsere Furcht!


Nicht nur unsere jüdischen Mitbürger brauchen unseren Schutz!


Nach 70 Jahren ist unsere Demokratie selbst in Gefahr, und wir alle sind aufgefordert, für sie in die Schranken zu treten, damit wir auch künftig in Freiheit, Frieden und Wohlstand leben können! 

Share by: